Schon lange hatte ich diese schönen Devanagari-Schriftzeichen
bewundert. Und dann, irgendwann war es soweit:
Eine Anleitung kam in meine Hände, und wie ein Schulkind wollte
ich wieder von vorn beginnen, schreiben lernen, heilige Zeichen
malen. Mit Schulheft und Stift, mit Muße und Ausdauer.
Schnell hatte ich mir augerechnet:

49 verschiedene Schriftzeichen, pro Woche vier Zeichen,
bedeutete 12 Wochen, also 3 Monate. Ok, das schien mir
eine akzeptable Zeit um das Alphabet zu lernen und Texte, wenn
auch nicht verstehen, aber so doch lesen zu können.

Tatsächlich hatte ich das ganze Projekt aber völlig unterschätzt.
Schon im Laufe der ersten Wochen begann ich zu ahnen,
daß Sanskrit "lernen" nicht mit Maßstäben funktioniert, die für
andere Sprachen oder wissenschaftliche Disziplinen gilt.
Nicht einmal das Wort "lernen" paßt eigentlich in diesen
Zusammenhang. Wo immer ich mit einer bestimmten
Erwartungshaltung vorging, wurde ich enttäuscht. Wo immer
ich bestimmte Ergebnisse anpeilte, mußte ich mich in Geduld üben.
Sicher, nach einer gewissen Zeit konnte ich die 49 Schriftzeichen
schreiben und wenn auch etwas mühsam erkennen,
nur Texte lesen, das war immer noch nicht möglich.
Zu meiner Überraschung mußte ich erfahren, daß es neben den
49 Grundzeichen noch viele andere Schriftzeichen gibt, die
sogenannten "zusammengesetzen Konsonanten" oder Ligaturen....
Und so hat es sich viele Male wiederholt: wo immer ich dachte,
nun sei ein Hindernis überwunden, stand schon das nächste vor mir.

Der erste Vers der Ishavasya- Upanishad

Wenn ich es heute mit etwas Distanz betrachte, sehe ich vor allem eins:

Sanskrit lernen, bedeutet eine Haltungsänderung zu zulassen.
Diese Sprache ist zu komplex, als das wir von ihr Besitz ergreifen könnten;
Die Haltungsänderung die erforderlich ist, heißt loslassen, preisgeben,
überlassen. Im ersten Vers der Ishavasya-Upanishad, der zu den
wichtigsten Texten Indiens gehört, wird dieses Thema auf besondere
Weise verdichtet.